Wahrheit(en)?

Es wird – meiner Wahrnehmung nach – immer offensichtlicher, dass es nicht die eine Wahrheit gibt, nicht in Bezug auf die Corona-Maßnahmen und auch nicht in Bezug auf irgendein anderes Thema. Wenn wir als Menschheit erwachsen werden wollen, müssen wir uns damit zurechtfinden und lernen, mit den vielfältigen Verschiedenheiten umzugehen.

Es gibt Fakten – ja; die lassen sich überprüfen. Aber wie wir diese Fakten bewerten, was wir aus ihnen ableiten und welche wir überhaupt wahrnehmen und welche nicht, wie sich also daraus unsere Wahrheit bildet, das hängt von so vielen Faktoren ab, die mehr oder weniger individuell verschieden sind. Was also ist dann Wahrheit?

Wahrheiten sind Verhandlungssache. Auch wenn uns das meistens nicht bewusst ist, haben wir uns doch zu bestimmten Fragen geeinigt. Wir Deutschen haben uns mehrheitlich darauf geeinigt, dass der Verfassungsstaat und die parlamentarische Demokratie Errungenschaften sind, die wir zu schätzen wissen. Wir sind uns auch einig, dass Mord verwerflich ist, ebenso eine Reihe anderer Taten und Verhaltensweisen. Wir hegen auch die gemeinsame Überzeugung, dass der Klimawandel ein Problem ist. Wie es zu lösen sei, darüber gehen die Ansichten auseinander. Und ob er überhaupt bedrohlich ist, wird auch von manchen angezweifelt.

Der Datensatz zu jeden Thema, das Wissen, das uns zur Verfügung steht, ist immer begrenzt, immer ein Ausschnitt. Und wir betrachten das, was wir an Wissen zur Verfügung haben, immer durch unsere ganz individuellen Filter. Was ist also Wahrheit? Meine Wahrheit – Deine Wahrheit?

Um politisch handlungsfähig zu sein, brauchen wir den Konsens einer Mehrheit. Den Inhalt des Konsens’ sollten wir aber nicht mit der Wahrheit verwechseln. Er ist nicht mehr als eine Vereinbarung darüber, was wir in diesem Augenblick für wahr halten und als Grundlage unseres Tuns annehmen wollen. Und er kann sich jederzeit ändern, wie wir z.B. an der Masken-Frage gesehen haben.

Was bedeutet das für unseren Umgang mit Menschen, die den Konsens nicht teilen? Oder die einfach meine Meinung nicht teilen? Das hängt sehr davon ab, wie sehr ich mit meiner eigenen Meinung oder Ansicht (die Art, wie ich etwas ansehe) identifiziert bin. Ist der Identifikationsgrad zu hoch, dann ist die andere Meinung, die jemand vorträgt, für mich eine Bedrohung, und ich muss ihn bekämpfen, ich muss meine Wahrheit zur einzig möglichen erklären und die andere abwerten.

Ich könnte meine eigene Wahrheit aber auch ansehen als eine Arbeitshypothese, die so lange Gültigkeit hat, bis sie widerlegt oder modifiziert wird (wie es z.B. in der Wissenschaft gehandhabt werden sollte, wo es allerdings auch oft menschelt), weil ich neue Erkenntnisse gewonnen habe – vielleicht aus der Wahrheit des anderen? Wahrheit ist kein Besitz, sondern ein Prozess, ein Abenteuer.