König Laurins Thronsaal

Wer wohnt hier?
Wohin führt dieser Eingang?

Unter der Wurzel geht’s ins Innere der Erde. Der Baum schützt den Zugang. Unberufene können nicht hinein. Aber vielleicht bist Du berufen? Weißt Du das? Willst Du ausprobieren, ob Dir Zutritt gewährt wird? Schließe Deine Augen und schlüpfe hinein! Kannst Du etwas sehen? Oder etwas hören? Riechen? Ist da jemand? Jemand, der Dich willkommen heißt, wenn Du um Einlass bittest?

Ich versuche es auch.

Ich sehe zuerst eine Maus, die trägt eine goldene Krone auf ihrem Kopf. Ich bin jetzt nicht größer als sie.
„Guten Abend, Majestät! Darf ich hereinkommen?“
„Ja, darfst du. Aber du musst nicht Majestät zu mir sagen. Ich heiße Adalbert. Du kommst mir gerade recht. Kannst Du mir sagen, warum seit einiger Zeit immer so viel Betrieb ist im Wald?“
„Das hängt mit den Corona-Lockdowns zusammen. Und nun haben die Leute wieder entdeckt, wie schön es im Wald ist. Zugegeben: Wir sind vielleicht zu viele.“
„Corona-was? Tragen die auch alle Kronen? Na ja, in gewisser Weise schon. Aber sie rennen da herum, als wüssten sie nichts davon.“
„Da magst Du recht haben“, gestehe ich ihm zu. „Wohnst du alleine hier?“
„Nein. Wir sind auch viele. Mäuse und Erdgeister und viele andere Wesen. Ich bin heute der Hüter der Schwelle.“
„Ah, ihr wechselt euch also ab in diesem Amt?“ frage ich.
„Ja. Sonst wäre das ja langweilig. Es kommt ja fast nie jemand.“
„Ich würde ja zu gern so einen Erdgeist treffen. Meinst du, du könntest mir erlauben, dass ich weiter da hineingehe? Vielleicht begegnet mir jemand.“
„Geh nur!“
„Danke.“

Ich schlüpfe tiefer hinein. Je weiter ich in die Erde gelange, desto heller wird es; aber ich sehe keine Lichter. Dafür dringt mit einem Mal eine Stimme an mein Ohr: „Komm hierher! Komm!“ Es klingt dröhnend, mit vielen Echos. Ich versuche herauszuhören, aus welcher Richtung der Ruf kommt. „Komm hierher!“ Ich entscheide mich für eine Richtung und folge einem schmalen Gang, der allmählich breiter wird. Und ich gelange in einen riesigen Saal, der so hoch und weit ist, dass ich Decke und Wände kaum ausmachen kann. Er ist über und über mit Kristallen geschmückt, die leuchten und funkeln.

Ich bleibe staunend stehen. Welche Herrlichkeit! So muss des Bergkönigs Halle aussehen, König Laurins Thronsaal.

„Hier bin ich. Komm her!“ ruft die Stimme, meine Gedanken beantwortend. Ich blicke mich suchend um. An der Stirnseite der Halle sitzt auf einem breiten Thron jemand. Oder ist es ein Bergkristall? Ich trete scheu näher. Und je näher ich komme, desto deutlicher kann ich in dem Bergkristall ein Wesen erkennen, eine königliche  Gestalt, mit weißem Haar und langem, weißem Bart. Die Augen blitzen. Und ich höre ihn sagen: „Tritt näher, mein Kind! Schön, dass du kommst, dass du mich gefunden hast. Hast du einen Wunsch?“
„Das möchte ich eigentlich dich fragen. Denn ich weiß wohl, dass wir Menschen dir und den Wesen der Erde etwas schuldig sind, auch Mutter Erde selbst.“
„Lass das Schuldbewusstsein fahren!“ antwortet er. „Es ist alles, wie es sein soll, alles in der Ordnung, die das Schöpferwesen vorgesehen hat. Mein Reich ist noch nicht untergegangen und wird auch nicht untergehen. Alles wird heilen. – Sieh, da kommt meine Frau!“
Neben ihm ist ein fast ebenso großer Amethyst aufgetaucht, aus dem eine wunderschöne alte Frau sichtbar wird. Ihre Augen leuchten violett wie der Amethyst. Sie schaut ihren Gatten an und dann mich.
„Ja, so ist es“, sagt sie. „Wir Wesen der Erdentiefe lieben euch. Darum kommen wir auch zu euch, um bei eurer Heilarbeit zu helfen. Es ist alles in Ordnung. Lernt wieder, das zu sehen! Dann geht es euch und uns gut.“

Mir steigen Tränen der Rührung in die Augen. Ich fühle mich so leicht und befreit. Ich sage den Beiden meinen tief empfundenen Dank und nehme Abschied. „Komm wieder!“ rufen sie mir noch nach. Ja, das werde ich.

Ich folge dem Gang, der immer schmaler wird, nun in die andere Richtung. In mir trage ich das Leuchten, Funkeln und Glitzern, so dass ich gar nicht unterscheiden kann, ob das Licht, das mir den Weg erhellt, von innen oder außen kommt.

Am Ausgang sitzt Adalbert, und als er mich sieht, zwinkert er mir zu. Ich bedanke mich auch bei ihm noch einmal und wünsche ihm eine gute Zeit, auf ein Wiedersehen. Als ich hinausschlüpfe, winkt er mir nach.

Da bin ich also wieder in meiner Welt. So nah sind sie beieinander, meine Welt und Laurins Reich! Wie wunderbar!