Alt? Jung?

Wie belieben die Leute doch gern zu sagen: „Ich bin halt nicht mehr der/die Jüngste!“ Ja, so mögen sie auch über mich sagen, denn ich habe mehr als siebzig Sommer erlebt. Und ebenso viele Winter. Von Frühling und Herbst ganz zu schweigen. Und was waren das für Jahre! Ich glaube nicht, dass bereits irgendwann in der Geschichte in nur sieben Jahrzehnten auf der Bühne der Welt so viel passiert ist. Und die Ereignisdichte nimmt immer noch zu. Wann wird der Grenzwert erreicht sein, wo alles zugleich passiert und die Zeit in sich zusammenstürzt?

Es kann einem ganz schwindlig werden dabei. Und dann sind da ja noch all die Alltäglichkeiten, Freuden und Katastrophen, die sich nur in meinem eigenen persönlichen Leben ereignet haben. Ist all das zusammengenommen nun ein Schatz? Mir kommt diese Bezeichnung im Augenblick ein wenig schönfärberisch vor. Denn darin befindet sich manche Perle, die ich da lieber nicht sähe – will sagen: manches Erlebte, das ich lieber nicht durchgemacht hätte. Aber doch: Es ist ein Schatz. Die Ereignisse sind nun einmal gewesen, ich habe sie mir irgendwie in mein Leben gezogen, und jetzt wollen sie, dass ich etwas daraus mache. Angesichts all dessen: Bin ich nun alt oder jung oder was?

Manchmal fühle ich mich uralt, ein andermal wieder ganz jung oder auch alterslos. Es hängt davon ab, wie es mir gerade geht. Es hängt auch davon ab, ob ich mir Sorgen mache oder auf sie pfeife. Ob ich den Ängsten erlaube, sich in mir breit zu machen, oder sie in ihre Schranken weisen kann. Ob es mir gelingt, mein inneres Feuer zu entfachen und zu hüten.

Wenn es mir gelingt, da das rechte Gleichgewicht zu finden, erscheint es mir völlig natürlich, dass wir Menschen viel älter werden können, als wir es bis heute sehen. Nein, nicht auf die Art wie bisher, wo der Körper hinfällig und runzlig wird. Das ist ein Irrweg gewesen. Sondern so, dass niemand zu sagen vermöchte, ob ich fünfzig oder hundertzwanzig Jahre alt bin. Ja, so wird es wieder sein. Wann? Das weiß ich nicht. Aber bald.

Denn ist es nicht eine ungeheure Verschwendung, wenn wir jedes Mal, sobald wir es zu einer gewissen Klugheit – um nicht gleich von Weisheit zu reden – gebracht haben,  dem Tod erlauben, alles wieder einzukassieren? Und auch wenn wir bei unserer nächsten Geburt nicht als unbeschriebenes Blatt auf die Bühne treten, so bleibt es doch ein Umweg. Wir können auch gleich das Gesammelte sichten, werten und zu einer lebendigen Wissenschaft ordnen und diese zum Wohl aller einsetzen, verschenken, nutzen.

Und keine Sorge, dass es auf Planet Erde zu eng wird, wenn wir so lange leben! Wir werden dann ja seltener wiedergeboren. Es wird weniger Kinder geben, die wir dafür als umso kostbarer schätzen und hegen werden. Und nein: Wir gehen dann nicht mehr mit siebenundsechzig in Rente. Diese Gewohnheit werden wir im Rückblick belächeln. Arbeit wird es nicht mehr geben. Stattdessen werden wir in Freude tätig sein. Und wir werden uns nicht mehr fragen, ob wir jung oder alt sind?